Über einen Historiker und Poeten aus Marokko
„Ali Sidqi Azayku ist ein großer masirischer Poet, aber auch ein brillanter marokkanischer Intellektueller (...) er lebt in seiner Welt. Seine Poesie erinnert mich am Mallarmé“
Der Schriftsteller Mohammed Khair-Eddine
Der Schriftsteller Mohammed Khair-Eddine
Wichtige und unangenehme Intellektuelle sind Menschen, die denen eine Stimme geben, die keine haben. Solche Intellektuelle sind Väter und Mütter von Bewegungen und können viele Menschen prägen. Ali Sidqi Azayku ist eine starke masirische Stimme im modernen Marokko. Seine Fragen bezüglich der Geschichtsschreibung müssen von der Politik beantwortet werden. Seine Poesie schlägt einen neuen Weg in der masirischen Literatur. Ali Azaykus Positionen und Poesie haben eine ganze Generation geprägt. Viele sagen ihm zu Recht: Dda Ali Azayku
Ali Sidqi Azayku wurde 1942 in Igran geboren, einem kleinen Dorf zwischen Taroudant und Tiznit. Er besuchte mit einigen künftigen Politikern des Landes eine Grundschule in Marrakesch. Nach seinem Abitur arbeitete er als Lehrer in imi n Tanut (bei Marrakesch) und danach in Rabat. Er nahm ein Studium der Geschichte und Geographie auf und schloss es mit einem Magister ab. Im Jahre 1967 gründete er die erste marokkanische Nicht-Regierungs-Organisation für die masirische Identität in Marokko (Amrec). Als erster Vorsitzender dieser Organisation veröffentlichte er die erste masirische Anthologie Imuzzar und die erste Monatszeitschrift in masirischer Sprache Arraten. Nach einer zweijährigen Lehrertätigkeit in Rabat ging er nach Paris und promovierte in Geschichte bei Jacques Berque. Nach seiner Rückkehr aus Frankreich arbeitete er am Lehrstuhl für marokkanische Geschichte an der Universität Rabat. Neben seinen wissenschaftlichen Tätigkeiten an der Universität engagierte er sich für die masirische Identität in Marokko und Nordafrika. Er nannte seine Kinder nach zwei berühmten masirischen Persönlichkeiten (Tilila und Ziri) und setzte damit ein Zeichen für die Amasirität in Marokko.
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Der Historiker Ali Sidqi Azayku stellte in den sechziger Jahren fest, dass der neue marokkanische Nationalstaat eine verhängnisvolle Kulturpolitik gegen die Bevölkerungsmehrheit durchsetzten wollte. Der neue Staat bastelte in dieser Zeit an einer verfälschten Geschichte und Identität des Landes.
Ali Sidqi Azayku verfolgte in dieser Zeit die Geschichtsfälschung in Marokko auf Schritt und Tritt und belegte alles mit historischen Dokumente. Dort wo der Schwerpunkt auf das Arabische gelenkt wurde, stellte er ihnen Fragen. Dort wo das Masirsiche (Berberische) klein und negativ geredet wurde, lieferte er historische Dokumente, die das Gegenteil beweisen.
Ali Sidqi Azayku schrieb von Anfang an gegen die Entfremdung und Entwurzelung der Nordafrikaner. Er gehört der Generation an, welche die Entstehung der neuen Nationalstaaten in Nordafrika mitverfolgt und miterlebt hat. Seine Fragen beziehen sich überwiegend auf die Debatten über die nordafrikanische Identität.
Wie könnte man die masirische Geschichte in den neuen nordafrikanischen Staaten schreiben? Wie sollen wir mit den griechischen, römischen, arabischen, französischen und spanischen Geschichtsquellen über Imasiren umgehen? Warum wird die nordafrikanische Geschichte auf die arabisch-islamische Epoche reduziert und nur aus dieser Perspektive in den Schulen unterrichtet? Wie könnten nordafrikanische Historiker eine Entkolonisierung der Geschichte betreiben? Was verstehen wir unter der Entkolonisierung der Geschichte und wann soll sie ansetzen? Betrifft diese Entkolonisierung nur die römische und französische Sicht oder auch die arabische? Warum soll die arabische Eroberung ausgeklammert und positiv dargestellt werden? Warum werden die masirischen Widerstandskämpfer Kussayla (Aksil) und Dihya (Kahina) in den nordafrikanischen Schulbüchern als Verräter, die arabischen Eroberer Oqba ibn Nafiâ und Mussa ibn Nussayer aber als Helden gefeiert? Warum wird die Ideologie des Panarabismus mit dem Islam vermischt? Warum sollen Imasiren im eignen Land arabisiert werden?
Diese und andere Fragen werden in seinem Werk intensiv diskutiert. Er strebte ein offenes Gespräch mit den Historikern und Intellektuellen in Marokko an. Aber seine Fragen wurden von vielen aus politischen Gründen abgelehnt. Ein zeitgenössischer Historiker, dem diese Fragen unangenehm waren, bezeichnete Azaykus Betrachtungen als „Azaykus neue Philosophie der Geschichte“
Imasiren haben immer ein nationales Bewusstsein und waren immer Universalisten, sie schrieben in griechischer (Juba II) und lateinischer Sprache (Terntius Afer / Apuleius (Afulay) / Tertullianus / Arnobius / Aurelius Augustinus); sie trugen somit zu Entstehung vieler Mittelmeerkulturen bei.
Masirische Königreiche von Syphax, Baga, Massinissa, Bocchus I, Yugurthin und Juba I gab es vor und zur Zeit des Römischen Reiches. Waren die sog. Yugurtinischen (Yugurtin!) Kriege in Nordafrika nicht gegen die Kolonisation der Römer? War es nicht Massinissa, der König Numidiens, der den Spruch prägte: Afrika den Afrikanern!
Auch die Araber trafen auf den Widerstand der Herrscher Aksil und Dihya, die bei den alten arabischen Autoren als „Kusayla al-barbari“ (Kusayla der Berber) und „Dihya al Kahina“ (Dihya die Jüdin) heißen!
Der erste Nationalstaat im modernen Sinne wurde in Nordafrika von den Barghwatâ gegründet. Während dieser Dynastie wurde der Koran ins Tamazight übersetzt und Tamazight selbst war die einzige Sprache. Sunnitische Fanatiker erklärten die Anhänger dieser Dynastie für Ungläubige und beschuldigten sie der Ketzerei. Einige arabische Historiker hatten ausführlich darüber berichtet!
Die Dynastien der Al-muhaden und Al-murabiten haben sich vom Orient sehr früh politisch unabhängig gemacht. Sie sind die wahren Gründer des großen Maghreb/Tamazgha. Aber all diese Aspekte der masirischen Geschichte, die bei Azayku besprochen werden, werden in der offiziellen nordafrikanischen Geschichte verschwiegen. Der erste Geschichtsunterricht beginnt mit der „Geschichte der arabischen Stämme“. Der masirsiche Schüler darf über seine lange Geschichte und Identität nichts erfahren, er könnte ja sich damit identifizieren und die neue arabische Identität in Frage stellen. Er könnte aber auch die arabisch-islamische Legitimation der Macht in Frage stellen.
Mit Ali Sidqi Azayku kündigt sich eine neue Phase in der masirischen Geschichte an. Die Zahl der Nordafrikaner, die sich mit seinen Fragen beschäftigen ist gestiegen. Der Verdienst von Ali Sidqi Azayku ist, dass er diese neue Geschichtsphase in Marokko mit seinen Fragen und Poesie eingeleitet hat.
Diese neue Phase ist ein lauter Schrei gegen die politischen und kulturellen Pläne der neuen nordafrikanischen Staaten. Es ist eine Reaktion auf eine aggressive Arabisierungspolitik zu verstehen, die einen Staatsphilosophen und Theoretiker des neuen Panarabismus in Marokko zu der bemerkenswerten Aufforderung hinreisen ließ:
„Die Vollständige Arabisierungsaktion muss nicht nur auf die Verdrängung des Französischen als Sprache der Zivilisation und Kultur, des Verkehrs und der Zusammenarbeit zielen, sondern sie muss auch das Berberische und Marokkanische auslöschen“.
Es sind solche Aussagen, die zu einem neuen defensiven Nationalismus bei Imasiren geführt haben. Das Masirische hat alle Kolonisatoren überlebt. Selbst die Lateinische Sprache, eine Reichs- und Religionssprache, ist ausgestorben. Das Masirische, das Fundament der masirischen Identität, aber leistet immer noch Widerstand.
Der politische Durchbruch, den Ali Azayku markiert, stellt sich in seinen Fragen nach der masirischen Geschichtsschreibung in den heutigen nordafrikanischen Staaten dar. Aber er ist nicht nur Historiker. Ein wichtiger Poet ist er auch noch!
Seine Poesie zeigt eine starke Subjektivität und einen neuen Individualismus in der masirischen Literatur. Der metaphorische Reichtum seiner Gedichte schlägt neue Wellen in der masirischen Poesie. Er wusste worunter Imasiren leiden und trug mit seiner Lyrik ein wenig zur ihrer Heilung bei.
Die südmarokkanischen Masiren kennen ihn vor allem als einen modernen Lyriker. Seine ersten Gedichte wurden in den siebziger und achtziger Jahren vertont. Der engagierte Sänger Ammouri Mbarek und Gründer der ersten modernen masirischen Musikgruppe Usman, schaffte es, einige Gedichte Azaykus in wunderschöne Lieder zu verwandeln und sie so bei einer ganzen Generation beliebt zu machen.
Azaykus erster Gedichtband Timitar (Zeichen) wurde 1988 veröffentlicht. Er besteht aus 33 Gedichten, die zwischen 1969 und 1980 verfasst sind. Alle Gedichte tragen in sich die alte masirische Symbolik, die bei den alten traditionellen Poeten wie Sidi Hêmmu Ttâlb, Lhâj Belaid oder Omar Wahrush zu finden ist. Die masirsiche Frage bekokmt in seinen Gedichten eine universelle Dimension. In seinen Gedichten geht es nicht um eine bestimme Region wie Souss oder Rif, sondern um die Identität und Stimme eines ganzen Volkes, das durch den Poeten zu den „Gehörlosen“ spricht. Der erste Gedichtband behandelt die Emanzipation und Aufklärung der Masiren, die Kindheit und Liebe des Poeten. Einige Gedichte thematisieren die Notwendigkeit der Modernisierung des Masirischen.
Azayku war auch ein engagierter Mensch und trug sehr viel zur Entwicklung der masirischen Kulturbewegung bei. In den siebziger Jahren hatte er die erste Organisation für Tamazight (Amrec) verlassen. Mit Driss Al-Khatabi, dem Sohn des Widerstandskämpfers Abdelkrim al-Khatabi, und dem Arzt Abdelmalek Oussaden gründete er eine nordafrikanische Vereinigung mit dem Namen „Maghrebinischer Verein“. Das Ziel dieser Organisation war, die masirische Frage mit anderen nordafrikanischen Intellektuellen zu diskutieren. Er war auch Mitbegründer der Organisation Amazigh. 1981 hatte diese Organisation den Schriftsteller und Präsident Senegals Léopold Sédar Senghor eingeladen, um über die Afrikanität und Amasirität in Nordafrika zu debattieren. Die Zeitschrift der Organisation Amazigh veröffentlichte einen Artikel von Azayku im Jahre 1981 mit einem Pseudonamen Ali u Zulît. Nach dieser Veröffentlichung wurde die gesamte Redaktion verhaftet und verhört. Alle Redaktionsmitglieder wurden nach einer Woche freigelassen, der Historiker Ali Azayku wurde jedoch zu drei Jahre Gefängnis verurteilt.
In diesem Zeitschriftartikel behandelt der Autor den kulturellen Imperialismus und seine Auswirkungen auf die Dritte Welt. Er knüpfte die Entwicklung der neuen Staaten in der Dritten Welt an der Lösung der kulturellen Probleme an und betonte die Wichtigkeit der kulturellen Identität für die Zukunft dieser Länder. Er äußerte sich auch über die Anerkennung der Masirität Marokkos. Ferner führt er die heutige kulturelle Situation in Marokko auf die verschiedenen Kolonisationen der Phönizier, Römer, Araber, Franzosen und Spanier zurück. Im dem Artikel lädt er die marokkanischen Intellektuellen zum einem konstruktiven Gespräch über diese Themen ein.
Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis dürfte Azayku an der Universität Rabat erneut lehren. Er zog sich aber aus dem öffentlichen Leben zurück und überließ das politische Engagement einer neuen Generation. Er hörte aber nicht auf, Menschen zu unterstützen, die sich für Tamazight interessieren.
Mohamed Chafik, sein Wegbegleiter und ehemalige Rektor des königlichen Instituts für die masirische Kultur (Ircam), schreibt in seinem Vorwort zum Arabisch-Tamazight Wörterbuch, dass Ali Sidqi Azayku ihm bei der Arbeit am Wörterbuch, was Suss-Tamazight angeht, sehr geholfen habe. 1993 unterstützte Azayku die Herausgabe eines Kinderwörterbuchs Tamazight-Arabisch.
Im Jahre 1995 erscheint sein zweiter Gedichtband Izmulen (Gedächtnisnarben) mit 19 Gedichten. Seine Gefängniserfahrungen wurden in den Gedichten verarbeitet. Das Hauptthema seiner Poesie bleibt die Emanzipation der Masrien.
Azayku ist eine neue starke Stimme in der masirischen Geschichte. Er war Historiker und kehrte am Ende seines Lebens zur Poesie zurück. Ist es Zufall oder bietet die Poesie den Menschen mehr als die Geschichte? Ein Dichter wirke auf seine Leser und Epoche mehr als ein Historiker, so der philosophische Schriftsteller Arthur Schopenhauer. In der Poesie liege mehr philosophischeres und Tieferes als in der Geschichte, so auch ein berühmter Satz des Philosophen Aristoteles.
War der Historiker Ali Sidqi Azayku auch dieser Meinung? Natürlich waren ihm diese Urteile bekannt. Er dachte über die Geschichte der Masiren nach und schrieb in seiner letzten Lebensphase Gedichte. Mit seiner Dichtung erreichte er in der Tat mehr Menschen als mit seinen Publikationen über die Geschichte. Er hat eine starke und metaphorische Sprache gefunden, die jeden Leser anspricht. Seine Gedichte unterscheiden ihn sehr stark von allen bisherigen masirischen Poeten. In seinen Gedichten merkt man auch den Denker Ali Sidqi Azayku. Seine Poesie hat tatsächlich etwas philosophisches und menschliches.
In seiner letzten Lebensphase konnte er mit den Mitgliedern des Ircam an den ersten masirischen Schulbüchern mitarbeiten. Er war Historiker, ein engagierter Intellektueller und ein besonderer Poet. Seine politischen Positionen und seine Poesie haben eine ganze Generation geprägt. Er hat ein neues Blatt in der modernen masirischen Geschichte geschrieben.
Ali Azayku ist am 10.09.2004 in Casablanca verstorben. Er wurde in seinem Geburtsort Igran begraben.
Moha Sroub
Ali Sidqi Azayku verfolgte in dieser Zeit die Geschichtsfälschung in Marokko auf Schritt und Tritt und belegte alles mit historischen Dokumente. Dort wo der Schwerpunkt auf das Arabische gelenkt wurde, stellte er ihnen Fragen. Dort wo das Masirsiche (Berberische) klein und negativ geredet wurde, lieferte er historische Dokumente, die das Gegenteil beweisen.
Ali Sidqi Azayku schrieb von Anfang an gegen die Entfremdung und Entwurzelung der Nordafrikaner. Er gehört der Generation an, welche die Entstehung der neuen Nationalstaaten in Nordafrika mitverfolgt und miterlebt hat. Seine Fragen beziehen sich überwiegend auf die Debatten über die nordafrikanische Identität.
Wie könnte man die masirische Geschichte in den neuen nordafrikanischen Staaten schreiben? Wie sollen wir mit den griechischen, römischen, arabischen, französischen und spanischen Geschichtsquellen über Imasiren umgehen? Warum wird die nordafrikanische Geschichte auf die arabisch-islamische Epoche reduziert und nur aus dieser Perspektive in den Schulen unterrichtet? Wie könnten nordafrikanische Historiker eine Entkolonisierung der Geschichte betreiben? Was verstehen wir unter der Entkolonisierung der Geschichte und wann soll sie ansetzen? Betrifft diese Entkolonisierung nur die römische und französische Sicht oder auch die arabische? Warum soll die arabische Eroberung ausgeklammert und positiv dargestellt werden? Warum werden die masirischen Widerstandskämpfer Kussayla (Aksil) und Dihya (Kahina) in den nordafrikanischen Schulbüchern als Verräter, die arabischen Eroberer Oqba ibn Nafiâ und Mussa ibn Nussayer aber als Helden gefeiert? Warum wird die Ideologie des Panarabismus mit dem Islam vermischt? Warum sollen Imasiren im eignen Land arabisiert werden?
Diese und andere Fragen werden in seinem Werk intensiv diskutiert. Er strebte ein offenes Gespräch mit den Historikern und Intellektuellen in Marokko an. Aber seine Fragen wurden von vielen aus politischen Gründen abgelehnt. Ein zeitgenössischer Historiker, dem diese Fragen unangenehm waren, bezeichnete Azaykus Betrachtungen als „Azaykus neue Philosophie der Geschichte“
Imasiren haben immer ein nationales Bewusstsein und waren immer Universalisten, sie schrieben in griechischer (Juba II) und lateinischer Sprache (Terntius Afer / Apuleius (Afulay) / Tertullianus / Arnobius / Aurelius Augustinus); sie trugen somit zu Entstehung vieler Mittelmeerkulturen bei.
Masirische Königreiche von Syphax, Baga, Massinissa, Bocchus I, Yugurthin und Juba I gab es vor und zur Zeit des Römischen Reiches. Waren die sog. Yugurtinischen (Yugurtin!) Kriege in Nordafrika nicht gegen die Kolonisation der Römer? War es nicht Massinissa, der König Numidiens, der den Spruch prägte: Afrika den Afrikanern!
Auch die Araber trafen auf den Widerstand der Herrscher Aksil und Dihya, die bei den alten arabischen Autoren als „Kusayla al-barbari“ (Kusayla der Berber) und „Dihya al Kahina“ (Dihya die Jüdin) heißen!
Der erste Nationalstaat im modernen Sinne wurde in Nordafrika von den Barghwatâ gegründet. Während dieser Dynastie wurde der Koran ins Tamazight übersetzt und Tamazight selbst war die einzige Sprache. Sunnitische Fanatiker erklärten die Anhänger dieser Dynastie für Ungläubige und beschuldigten sie der Ketzerei. Einige arabische Historiker hatten ausführlich darüber berichtet!
Die Dynastien der Al-muhaden und Al-murabiten haben sich vom Orient sehr früh politisch unabhängig gemacht. Sie sind die wahren Gründer des großen Maghreb/Tamazgha. Aber all diese Aspekte der masirischen Geschichte, die bei Azayku besprochen werden, werden in der offiziellen nordafrikanischen Geschichte verschwiegen. Der erste Geschichtsunterricht beginnt mit der „Geschichte der arabischen Stämme“. Der masirsiche Schüler darf über seine lange Geschichte und Identität nichts erfahren, er könnte ja sich damit identifizieren und die neue arabische Identität in Frage stellen. Er könnte aber auch die arabisch-islamische Legitimation der Macht in Frage stellen.
Mit Ali Sidqi Azayku kündigt sich eine neue Phase in der masirischen Geschichte an. Die Zahl der Nordafrikaner, die sich mit seinen Fragen beschäftigen ist gestiegen. Der Verdienst von Ali Sidqi Azayku ist, dass er diese neue Geschichtsphase in Marokko mit seinen Fragen und Poesie eingeleitet hat.
Diese neue Phase ist ein lauter Schrei gegen die politischen und kulturellen Pläne der neuen nordafrikanischen Staaten. Es ist eine Reaktion auf eine aggressive Arabisierungspolitik zu verstehen, die einen Staatsphilosophen und Theoretiker des neuen Panarabismus in Marokko zu der bemerkenswerten Aufforderung hinreisen ließ:
„Die Vollständige Arabisierungsaktion muss nicht nur auf die Verdrängung des Französischen als Sprache der Zivilisation und Kultur, des Verkehrs und der Zusammenarbeit zielen, sondern sie muss auch das Berberische und Marokkanische auslöschen“.
Es sind solche Aussagen, die zu einem neuen defensiven Nationalismus bei Imasiren geführt haben. Das Masirische hat alle Kolonisatoren überlebt. Selbst die Lateinische Sprache, eine Reichs- und Religionssprache, ist ausgestorben. Das Masirische, das Fundament der masirischen Identität, aber leistet immer noch Widerstand.
Der politische Durchbruch, den Ali Azayku markiert, stellt sich in seinen Fragen nach der masirischen Geschichtsschreibung in den heutigen nordafrikanischen Staaten dar. Aber er ist nicht nur Historiker. Ein wichtiger Poet ist er auch noch!
Seine Poesie zeigt eine starke Subjektivität und einen neuen Individualismus in der masirischen Literatur. Der metaphorische Reichtum seiner Gedichte schlägt neue Wellen in der masirischen Poesie. Er wusste worunter Imasiren leiden und trug mit seiner Lyrik ein wenig zur ihrer Heilung bei.
Die südmarokkanischen Masiren kennen ihn vor allem als einen modernen Lyriker. Seine ersten Gedichte wurden in den siebziger und achtziger Jahren vertont. Der engagierte Sänger Ammouri Mbarek und Gründer der ersten modernen masirischen Musikgruppe Usman, schaffte es, einige Gedichte Azaykus in wunderschöne Lieder zu verwandeln und sie so bei einer ganzen Generation beliebt zu machen.
Azaykus erster Gedichtband Timitar (Zeichen) wurde 1988 veröffentlicht. Er besteht aus 33 Gedichten, die zwischen 1969 und 1980 verfasst sind. Alle Gedichte tragen in sich die alte masirische Symbolik, die bei den alten traditionellen Poeten wie Sidi Hêmmu Ttâlb, Lhâj Belaid oder Omar Wahrush zu finden ist. Die masirsiche Frage bekokmt in seinen Gedichten eine universelle Dimension. In seinen Gedichten geht es nicht um eine bestimme Region wie Souss oder Rif, sondern um die Identität und Stimme eines ganzen Volkes, das durch den Poeten zu den „Gehörlosen“ spricht. Der erste Gedichtband behandelt die Emanzipation und Aufklärung der Masiren, die Kindheit und Liebe des Poeten. Einige Gedichte thematisieren die Notwendigkeit der Modernisierung des Masirischen.
Azayku war auch ein engagierter Mensch und trug sehr viel zur Entwicklung der masirischen Kulturbewegung bei. In den siebziger Jahren hatte er die erste Organisation für Tamazight (Amrec) verlassen. Mit Driss Al-Khatabi, dem Sohn des Widerstandskämpfers Abdelkrim al-Khatabi, und dem Arzt Abdelmalek Oussaden gründete er eine nordafrikanische Vereinigung mit dem Namen „Maghrebinischer Verein“. Das Ziel dieser Organisation war, die masirische Frage mit anderen nordafrikanischen Intellektuellen zu diskutieren. Er war auch Mitbegründer der Organisation Amazigh. 1981 hatte diese Organisation den Schriftsteller und Präsident Senegals Léopold Sédar Senghor eingeladen, um über die Afrikanität und Amasirität in Nordafrika zu debattieren. Die Zeitschrift der Organisation Amazigh veröffentlichte einen Artikel von Azayku im Jahre 1981 mit einem Pseudonamen Ali u Zulît. Nach dieser Veröffentlichung wurde die gesamte Redaktion verhaftet und verhört. Alle Redaktionsmitglieder wurden nach einer Woche freigelassen, der Historiker Ali Azayku wurde jedoch zu drei Jahre Gefängnis verurteilt.
In diesem Zeitschriftartikel behandelt der Autor den kulturellen Imperialismus und seine Auswirkungen auf die Dritte Welt. Er knüpfte die Entwicklung der neuen Staaten in der Dritten Welt an der Lösung der kulturellen Probleme an und betonte die Wichtigkeit der kulturellen Identität für die Zukunft dieser Länder. Er äußerte sich auch über die Anerkennung der Masirität Marokkos. Ferner führt er die heutige kulturelle Situation in Marokko auf die verschiedenen Kolonisationen der Phönizier, Römer, Araber, Franzosen und Spanier zurück. Im dem Artikel lädt er die marokkanischen Intellektuellen zum einem konstruktiven Gespräch über diese Themen ein.
Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis dürfte Azayku an der Universität Rabat erneut lehren. Er zog sich aber aus dem öffentlichen Leben zurück und überließ das politische Engagement einer neuen Generation. Er hörte aber nicht auf, Menschen zu unterstützen, die sich für Tamazight interessieren.
Mohamed Chafik, sein Wegbegleiter und ehemalige Rektor des königlichen Instituts für die masirische Kultur (Ircam), schreibt in seinem Vorwort zum Arabisch-Tamazight Wörterbuch, dass Ali Sidqi Azayku ihm bei der Arbeit am Wörterbuch, was Suss-Tamazight angeht, sehr geholfen habe. 1993 unterstützte Azayku die Herausgabe eines Kinderwörterbuchs Tamazight-Arabisch.
Im Jahre 1995 erscheint sein zweiter Gedichtband Izmulen (Gedächtnisnarben) mit 19 Gedichten. Seine Gefängniserfahrungen wurden in den Gedichten verarbeitet. Das Hauptthema seiner Poesie bleibt die Emanzipation der Masrien.
Azayku ist eine neue starke Stimme in der masirischen Geschichte. Er war Historiker und kehrte am Ende seines Lebens zur Poesie zurück. Ist es Zufall oder bietet die Poesie den Menschen mehr als die Geschichte? Ein Dichter wirke auf seine Leser und Epoche mehr als ein Historiker, so der philosophische Schriftsteller Arthur Schopenhauer. In der Poesie liege mehr philosophischeres und Tieferes als in der Geschichte, so auch ein berühmter Satz des Philosophen Aristoteles.
War der Historiker Ali Sidqi Azayku auch dieser Meinung? Natürlich waren ihm diese Urteile bekannt. Er dachte über die Geschichte der Masiren nach und schrieb in seiner letzten Lebensphase Gedichte. Mit seiner Dichtung erreichte er in der Tat mehr Menschen als mit seinen Publikationen über die Geschichte. Er hat eine starke und metaphorische Sprache gefunden, die jeden Leser anspricht. Seine Gedichte unterscheiden ihn sehr stark von allen bisherigen masirischen Poeten. In seinen Gedichten merkt man auch den Denker Ali Sidqi Azayku. Seine Poesie hat tatsächlich etwas philosophisches und menschliches.
In seiner letzten Lebensphase konnte er mit den Mitgliedern des Ircam an den ersten masirischen Schulbüchern mitarbeiten. Er war Historiker, ein engagierter Intellektueller und ein besonderer Poet. Seine politischen Positionen und seine Poesie haben eine ganze Generation geprägt. Er hat ein neues Blatt in der modernen masirischen Geschichte geschrieben.
Ali Azayku ist am 10.09.2004 in Casablanca verstorben. Er wurde in seinem Geburtsort Igran begraben.
Moha Sroub